Aus dem AHV NRW Magazin: Make Europe Competitive Again
„Make Europe Competitive Again“
Herausforderungen und Perspektiven des Wirtschaftsstandortes Europa im globalen Wettbewerb – aus ungarischem Blickwinkel
Text Gergő Szilágyi
Als Ungarn 2011 zum ersten Mal den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehatte, waren wir schon der Auffassung, dass unser Kontinent reich ist, aber dennoch schwächer wird. Bewusst wählten wir deshalb für jene halbjährige Periode „Strong Europe“ als unser Motto. Und nach etwa 13 Jahren stellen wir fest, dass die Problematik leider aktueller und drängender denn je ist. Europa ist zahlreichen – vor Kurzem noch unvorstellbaren – sicherheits- und energiepolitischen Krisen ausgesetzt, gepaart mit einer sich verschärfenden geostrategischen und wirtschaftlichen Rivalität der Großmächte.
Das alles kristallisiert sich als eine Wende der bisherigen Weltordnung und die Union steht in dieser Turbulenz wenig gerüstet da. Im Einklang damit blieb Ungarn auch während seiner jetzigen EU-Präsidentschaft dem früheren Leitgedanken treu – diesmal mit der Formulierung „Make Europe Great Again“. Wobei einige die Wortwahl störend oder überheblich gefunden haben, stellen wir klar: damit wird das Gebot der Stunde auf den Punkt gebracht. Zugleich wissen wir wohl, welcher Bewegungsraum einem Land als Ratspräsident zur Verfügung steht. Dementsprechend setzen wir – als „ehrlicher Makler“ – auf den Zusammenhalt der souveränen Mitgliedstaaten. Mit Rücksicht auf den Druck und die Größenordnung der obigen Herausforderungen kann jedoch unser gemeinsames Ziel nicht kleiner sein, Europas – vor allem wirtschaftliche – Dynamik und strategische Autonomie zurückzugewinnen und damit unsere Gemeinschaft stabiler und kompetitiver zu machen. Während dieser sechs Monate arbeitet also Ungarn entschlossen, dazu die richtigen Impulse zu geben und zu den überfälligen strukturellen Veränderungen beizutragen. Also machen wir gemeinsam die EU wettbewerbsfähiger!
Globale Champions League
Handlungsbedarf besteht zweifelsohne: die Union wird – besonders im Vergleich mit den USA und China – zunehmend zum Schlusslicht. Zwischen 2005 und 2023 stieg das BIP der Vereinigten Staaten von 13.000 auf 27.400 Mrd. USD, das von China von 2.300 auf 17.700 und im Fall der EU von 11.900 auf 16.970. Vor knapp 20 Jahren entfiel damit noch ca. 28% der globalen Wirtschaftsleistung auf die Union, bis 2023 ist dieser Anteil jedoch auf 17% gesunken. Als bezeichnend für diese Entwicklung gilt ebenfalls, dass 2010 noch 36 europäische Unternehmen in den weltweiten Top 100 vertreten waren, es 2024 aber nur noch 14 sind. Besonders alarmierend könnten die Aussichten für die kommenden Jahre sein, wobei die größten europäischen Volkswirtschaften im Schnitt von einem Wachstum von höchstens 1 % ausgehen dürfen. Prognosen für die USA liegen hingegen bei knapp 3 %, für China nahezu bei 5 %, für Indien sogar bei 7 %. Die Tendenz geht also dahin, dass wir immer mehr vom „globalen Champions League“ Abschied nehmen müssen; nicht gesprochen davon,
Die Intensität und Vielfältigkeit der deutsch-ungarischen (Wirtschafts)kooperation – auf einem Bild. Die Spielerinnen der mehrfachen Europapokalsieger AUDI ETO KC Győr im Solarpark, den die deutsche Autofirma in der westungarischen Stadt auf den Dächern des weltgrößten Motorenwerks errichtet hat . (© Audi Hungaria Zrt)
dass der Mangel an Dynamik selber zum negativen Standortfaktor wird und unsere eigenen Firmen – neben anderen Ursachen – in Richtung Verlagerung außerhalb der EU bewegt.
Was die tieferen Beweggründe angeht, nimmt Ungarn vor allem – auch als Ratspräsident – die zunehmende „Blockbildung“ der Weltwirtschaft in den Fokus. Die EU selber funktioniert als freier Wirtschaftsraum. In der Gemeinschaft sind 30 Mio. Arbeitsplätze vom Außenhandel abhängig. Zahlreiche Mitgliedsstaaten – denken wir nur an Deutschland – kann man durchaus als Export(welt)meister bezeichnen. Zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass die Union von der Einfuhr von Energie, seltenen Rohstoffen und anderen Produkten aus wenigen Drittländern stark abhängig ist. Dementsprechend brachte und bringt die Unterbrechung der Lieferketten als Konsequenz der Pandemie bzw. militärischer Konflikte für unsere Wirtschaft schon immense Schäden mit sich. Viel tiefgreifender und längerfristiger betrachten wir jedoch die geopolitischen Spannungen. Den Wellen von Protektionismus und „Zoll- und Steuerkriegen“, soll nun Europa mit großen Anstrengungen für einen freien, geordneten und verstärkten Welthandel – Stichwort: „connectivity“ – entgegensteuern. In diesem Kontext blicken wir mit großer Sorge auf weitere – sogar maßgeblich von der EU initiierte – Hürden und Belastungen.
Hausverstand
Der letzte Punkt führt uns zum anderen komplexen Problem, welches Ungarn – abgesehen auch vom aktuellen Ratsvorsitz – besonders beschäftigt. Für uns gilt als naheliegender wirtschaftspolitischer Ansatz, dass irgendeine Entität für ihre Unternehmer berechenbare und zufriedenstellende Geschäftsbedingungen zu gestalten versucht. Auch in diesem Sinne sehen wir die Notwendigkeit für eine rasche europäische Kurskorrektur. Als Paradebeispiel können wir den Green Deal nehmen. Bei der ohne Zweifel drängenden grünen Transformation – wo unser Land schon beachtliche Fortschritte erreicht hat – sollen Machbarkeit und „Hausverstand“ zentrale Rolle spielen. Wegen des stark ideologisch motivierten Regelwerks der EU hadern aber derzeit die Firmen – nicht zuletzt auch die Bürger – in Europa mit unzähligen bürokratischen Vorschriften, Belastungen sowie mit Energiepreisen, die drei- bis fünfmal den US-Durchschnitt übersteigen. Diese Extrakosten nehmen wertvollen Research & Development Tätigkeiten der Industrie die Finanzkraft, die gerade zur dringenden technologischen Entwicklung bei der klimaneutralen Umstellung unabdingbar wären.
Technologieoffene Industriestrategie
Die obigen Herausforderungen, Überlegungen und Ansätze spiegeln sich im Programm unserer jetzigen Ratspräsidentschaft wider und bestimmen auch derzeit unser Agieren in dieser Position. Priorität sollte die Wettbewerbsfähigkeit einnehmen, quasi als übergeordnetes, auch in anderen Themenbereichen geltendes Bestreben. Unseres Erachtens ist in diesem Punkt vorerst ein neuer Deal und damit neues Vertrauen unter den relevanten Akteuren – also mit Einbeziehung der europäischen
Bürger und Wirtschaft – notwendig. Auf dieser Basis können die Rahmenbedingungen zu einer technologieoffenen Industriestrategie, sowie zu einem ausgewogenen grünen und digitalen Wandel geschaffen werden. Da sollen insbesondere KMUs, die von der Lieferknappheit und den hohen Energiepreisen besonders betroffen sind, Unterstützung erhalten und somit resilienter gemacht werden. Ebenfalls gilt die Gewährleistung der Stabilität und Nachhaltigkeit der Arbeitsplätze als unabdingbar.
Neben der Verbesserung des „inneren“ wirtschaftlichen Klimas muss sich Europa für eine sich zunehmend entkoppelnde Weltwirtschaft rüsten und souveräner aufstellen. In diesem Sinne widmet sich Ungarn der Dysfunktionalität des Binnenmarktes
und räumt der Überprüfung der Wettbewerbsregeln, bzw. dem Bürokratieabbau, sowie der internationalen Handelspolitik und der Energie- und Rohstoffversorgung große Priorität ein. Hierbei hat die Förderung einer offenen Wirtschaft und der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit – vor allem in Form von EU-Handelsabkommen – eine besondere Bedeutung. Wir müssen unsere Außenbeziehungen ideologiefrei und partnerschaftlich gestalten, um resilienter gegenüber globalen Krisen zu werden und um wieder eine bestimmende Rolle auf der Weltbühne spielen zu können.
Aber auch darüber hinaus zieht sich die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit als „roter Faden“ durch unseren Ratsvorsitz und dessen Agenda. In diesem Sinne haben wir Schwerpunkte in mehreren Fachbereichen gesetzt, wie z.B. eine wieder an den Bedürfnissen der Landwirte orientierte Agrarpolitik, welche damit effektiver zur Versorgungssicherheit und Souveränität der Europäischen Union beitragen kann. Dazu gehören ferner – auch im Zeichen der Stabilität unserer Gemeinschaft – der Ausbau einer innovativen europäischen Rüstungsindustrie sowie eine effektivere Gestaltung der künftigen Kohäsionspolitik. Ein weiterer essentieller Punkt für den ungarischen Vorsitz ist die Auseinandersetzung mit den demografischen Herausforderungen innerhalb der Union, nicht zuletzt als Voraussetzung zu einem nachhaltigen Wachstum und zur Beseitigung des Fach- und Arbeitskräftemangels. Da betrachten wir jedoch die wirksame Familienpolitik als Lösungsansatz, statt steigender Migrationsraten. Was Letzteres betrifft, möchten wir nicht nur einen effizienten Schutz der Außengrenzen gewährleisten, sondern auch die Ursachen der illegalen Einwanderung bekämpfen. Nicht zuletzt steht die Förderung der EU-Erweiterung auf dem Westbalkan auf unserer Prioritätsliste – wir denken nämlich, dass diese Region die nötige, u.a. wirtschaftliche Dynamik besitzt.
Wir sind der Überzeugung, dass diese Veränderungen nicht nur notwendig sind, sondern aus Verantwortung gegenüber nachfolgenden Generationen angegangen werden müssen. Deswegen versuchen wir den überfälligen Schub zu geben – in der Hoffnung, dass diese Initiativen auch von unsere europäischen, z.B. deutschen Partnern, unterstützend aufgegriffen werden.
Konnektivität und positives Geschäftsklima in der Praxis
In Ungarn wird der Spruch „Wasser predigen und Wein trinken“ oft benutzt. Damit wir hiermit nicht in den Verdacht geraten, unseren EU-Partnern in puncto Wettbewerbsfähigkeit nur theoretische Binsenweisheiten vorzuschlagen, möchte ich kurz darauf hinweisen, welche Erfahrungen wir jüngst mit offener Handels-, bzw. Investitionspolitik gemacht haben. Als das Ministerium für Auswärtiges und Außenhandel vor etwa zehn Jahren die Devise „Nach Osten zu öffnen, im Westen zu bewahren“ angekündigt hat, wurde diese in Europa oft mit Spott oder Kritik bedacht. Trotzdem betrachten wir Konnektivität, bzw. aktive Kooperation zwischen Europa und Asien nach wie vor als Chance – und keinesfalls als Bedrohung. Und die Zahlen zeigen, dass unser Land die damalige Zielsetzung sogar übertrifft, indem es seine Wirtschaftsbeziehungen in praktisch alle Himmelsrichtungen stärken konnte.
Was Investitionen betrifft, entdecken Unternehmen aus beiden Kontinenten – vor allem in der Autoindustrie – Ungarn immer mehr als Treffpunkt, wo sie ihre Innovationen koppeln und dadurch neue Wertketten gestalten können. Man soll nur an die Stadt Debrecen denken, wo BMW und die chinesische Batteriefirma CATL hochmoderne Werke – im Wert von zwei, bzw. sieben Mrd. Euro – bauen und damit im gleichen Industriegebiet praktisch ein „Ökosystem“ im Bereich E-Mobilität herstellen. Daran gemessen ist es nicht besonders überraschend, dass das FDI-Volumen im Land seit 2015 ständig Rekorde bricht (2022: 100,9 Mrd. Euro) und daran sich asiatische sowie europäische Partner – vor allem Deutschland mit der größten Investorengemeinschaft – maßgeblich und ausgewogen beteiligen. Um das zu erreichen, bieten wir ein verlockendes Steuersystem (u.a. mit einer Gewerbesteuer von 9%), hochentwickelte Verkehrs- und digitale Infrastruktur, qualifizierte und motivierte Arbeitnehmer – dank einer starken Hochschullandschaft sowie dualer Ausbildung nach deutschem Muster -, nicht zuletzt effektive Unterstützungen und Firmenbetreuung seitens der ungarischen Investitionsagentur HIPA.
Im Handel haben die raschen Verschiebungen, die unerwarteten Hürden und Krisen in den letzten Jahren deutlich bewiesen, dass es eine richtige Entscheidung war, noch mehr auf Konnektivität und Diversifizierung zu setzen. Nur so konnte das Land 2023 mit 149,2 Mrd. Euro nicht nur einen neuen Exportrekord aufstellen, sondern durch ein Plus von ca. 9Mrd. in der Handelsbilanz die Verluste ausgleichen, die wir 2022 infolge der hohen Energiepreise erlitten. Zu diesem Ergebnis trug maßgeblich die enge Kooperation mit Deutschland bei, welches nach wie vor als Handelspartner Nr. 1. für Ungarn gilt – mit einem Anteil von knapp 27%, sowie 22% im Gesamtexport, bzw. -import. In unserer Relation erscheinen besonders die geografische Nähe und die gute Infrastruktur als positive Faktoren: kürzere Lieferzeiten senken nicht nur die Kosten, sondern ermöglichen auch flexiblere Bestellvorgänge. Nicht zuletzt: die engagierte heimische Arbeitskultur lässt sich gut mit dem deutschen Unternehmensumfeld vereinbaren, was eine reibungslose Kommunikation und effektive Zusammenarbeit möglich macht. Also die Voraussetzungen sind durchaus gegeben, die bilaterale Erfolgsgeschichte auch im Handel weiterzuschreiben und damit zugleich die wirtschaftliche Dynamik der EU zu stärken. Sozusagen: „Let’s trade Europe great again!“ ◀
Gergő Szilágyi
Generalkonsul von Ungarn
Generalkonsulat von Ungarn
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