Aus dem AHV NRW Magazin: Der Standort Europa im internationalen Vergleich
Der Standort Europa im internationalen Vergleich
Bekommt Brüssel noch die Kurve?
Text: Ralph Kamphöner
Die Textil- und Modeindustrie leistet einen wesentlichen Beitrag zum europäischen Wohlstand und Wachstum. 1.400 Unternehmen produzieren in Deutschland hochwertige Garne, Stoffe, Bekleidung, Schuhe, Textilien rund ums Wohnen, Auto, Bahn und Flugzeug; technische Textilien wie Luftund Wasserfilter, Spezialtextilien für den Arbeitsschutz, Medizintextilien oder textilen Leichtbau. Die Textil- und Bekleidungsbranche in Deutschland ist mittelständisch geprägt und steht mit ihrer starken Forschungs- und Ausbildungslandschaft für innovative Textilien, die auch einen wichtigen Beitrag zu Nachhaltigkeit und Kreislaufwirtschaft leisten. Allein in Deutschland erwirtschaften rund 122.000 Beschäftigte einen Jahresumsatz von rund 32 Milliarden Euro, 40 % davon im Export.
Wir wollen auch in Zukunft eine wettbewerbsfähige Textilindustrie an unserem Standort ermöglichen, die qualitativ hochwertige und nachhaltige Produkte anbietet, basierend auf Innovation, Kreativität und Design. Dazu brauchen wir bessere Rahmenbedingungen für unsere Unternehmen daheim und auf den Märkten weltweit. Das geht nicht ohne die EU. Nach fünf Jahren Green Deal und Wegducken vor den Realitäten und Sorgen der mittelständischen Wirtschaft brauchen wir von der aktuellen Europäischen Kommission in Brüssel endlich einen neuen, in sich stimmigen Mix für die heimische Wirtschaft. Das Signal der Europawahl im Juni ist deutlich: Frau von der Leyen und ihre Kommissare müssen endlich liefern.
Die hohen Energiekosten zählen zu den größten Problemen für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie. Die EU muss sich dringend auf die Senkung der Energiepreise für Unternehmen im globalen Wettbewerb konzentrieren, Unternehmen bei der Dekarbonisierung und Verbesserung ihrer Energieeffizienz unterstützen und eine Fragmentierung des Energiebinnenmarkts verhindern.
Auch in Zeiten multipler Herausforderungen bleibt die weitere Vertiefung des Binnenmarktes ein zentrales Anliegen der Wirtschaft. Der freie Verkehr von Waren, Arbeitskräften und Dienstleistungen gehört zu den Grundvoraussetzungen einer leistungsfähigen Wirtschaft am Standort Europa. Grenzkontrollen intra Schengen schaden Unternehmen und Bürgern gleichermaßen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat gerade erst in der COVID-Pandemie vorgelebt, wie es besser geht: Synergien mit den Nachbarländern nutzen, statt künstliche Staus auf dem Weg von Europa nach Europa zu erzeugen. Mit anderen polizeilichen Maßnahmen wie z. B. der Schleierfahndung stehen genügend besser geeignete und den innereuropäischen Grenzverkehr weniger belastende Alternativen zur Verfügung.
Leider sind auch in anderen Politikbereichen zunehmend Zentrifugalkräfte zu beobachten, die sich nachteilig auf den Standort Europa auswirken. So preschen einige EU-Mitgliedstaaten, etwa bei der erweiterten Herstellerverantwortung, besonders schnell voran und schaffen damit unterschiedliche Regeln und Standards. Diese Fragmentierung des EU-Binnenmarkts muss dringend gestoppt werden, denn sie behindert den freien Warenverkehr und verringert damit auch die Kosteneffizienz der Unternehmen. Um Entscheidungen in der EU zu beschleunigen, ist es darüber hinaus dringend geboten, dass die Anzahl der Bereiche reduziert wird, in denen Einstimmigkeit erforderlich ist.
Man muss es leider auch (und gerade) als glühender Verfechter der europäischen Idee so klar sagen: Die heimische Industrie ist bei ihren Investitionsentscheidungen nach fünf Jahren mehr als je zuvor mit einem Übermaß an Bürokratie, Rechtsunsicherheit und Verzögerungen konfrontiert. Dies belastet die Attraktivität des Standorts Europa erheblich. Die EU muss endlich die Auswirkungen ihres Handelns auf die Wirtschaft sorgfältiger prüfen und für jede neue Gesetzgebung einen Wettbewerbsfähigkeitstest einführen. Berichtspflichten müssen nicht (wie aktuell im Rahmen von Taxonomie, Nachhaltigkeitsberichterstattung etc.) ausgeweitet, sondern wieder zurückgenommen und, wo beibehalten, harmonisiert werden. Bei der Schaffung neuer Rechtsvorschriften muss endlich das jahrelang konsequent ignorierte Prinzip „One in, one out“ zur Anwendung kommen. Nach jahrelanger Vakanz der Position des KMU-Beauftragten und der gescheiterten Neubesetzung dieser Position im Frühjahr 2024 besteht hier ebenfalls dringender Handlungsbedarf. Gleiches gilt für die Optimierung und Vertiefung des Dialogs zwischen EU und Wirtschaft: Nach Jahren der Nachlässigkeit ist es zwingend an der Zeit, Konsultationsstandards wieder besser zu respektieren und die Grundsätze guten Regierens und besserer Rechtsetzung systematisch umzusetzen.
Dabei stehen Wirtschaftswachstum und Nachhaltigkeit nicht im Konkurrenzverhältnis. Ganz im Gegenteil: Die EU-Strategie für nachhaltige Textilien öffnet unserer Branche den Weg zu neuen Geschäftsmodellen mit kleinerem ökologischem Fußabdruck. Um dieses Ziel zu verwirklichen, liegen nicht weniger als 16 Regulierungsvorschläge auf dem Tisch, von denen jeder einen anderen Zeitplan hat und die von verschiedenen Dienststellen der Europäischen Kommission bearbeitet werden. Die deutsche Wirtschaft braucht endlich einen kohärenten und KMU-freundlichen regulatorischen Rahmen, der Innovationen fördert und Textilunternehmen nicht einfach vom Markt verdrängt.
Dazu gehört auch ein deutliches Umsteuern bei der europäischen Chemikalienpolitik. Nach fünf Jahren ideologiegetriebener Vernachlässigung elementarer Belange der Wirtschaft gilt es jetzt, die Verfügbarkeit von Chemikalien sicherzustellen und einige der aktuell in Vorbereitung befindlichen Verbote noch einmal zu überarbeiten. Die aktuellen Planungen im Bereich von REACH und PFAS sind Gift für den Standort Europa und führen, wenn ungebremst weiterbetrieben, geradewegs zur Abwanderung von erheblichen Teilen der Industrie aus Europa.
Bei der Chemikalienpolitik, aber auch beim neuen CO2-Grenzausgleichsmechanismus CBAM hat die EU in den vergangenen fünf Jahren mehr auf isolationistische Alleingänge als auf gemeinsame Initiativen mit anderen Weltregionen gesetzt. Europäische Unternehmen allein können aber den Fußabdruck ihrer Wettbewerber rund um den Globus nicht ausgleichen. Die EU mit nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ist zu klein, um ihre Nachhaltigkeitsstrategien unilateral durchzusetzen. Um die nötige Hebelwirkung für Umwelt und Klima und ein Level-Playing- Field für europäische Unternehmen zu erzielen, sollte die EU ihre Politik zumindest plurilateral mit ihren wichtigsten Handelspartnern abstimmen, sodass Unternehmen in den teilnehmenden Ländern nach den gleichen Regeln arbeiten.
In der Handelspolitik verliert die EU international zunehmend den Anschluss. Brüssel muss endlich seinen Rückstand bei den Freihandelsabkommen aufholen und den Marktzugang für europäische Waren und Dienstleistungen zu außereuropäischen Märkten verbessern. Basis hierfür ist das regelbasierte multilaterale Handelssystem der WTO, perspektivisch ergänzt durch zusätzliche plurilaterale Abkommen. Insbesondere mit Indien, wo die EU ein erhebliches Handelsdefizit bei Textilien und einen schwierigen Marktzugang hat, käme ein ambitioniertes Handelsabkommen der europäischen Wirtschaft sehr zugute.
Auch die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA müssen wieder aufgenommen werden. Für Textilunternehmen sind die USA ein wichtiger Zielmarkt. Daneben sind weitere Anstrengungen erforderlich, um regulatorische Konvergenz und die gegenseitige Anerkennung von Standards sicherzustellen. Darüber hinaus muss das EU-Mercosur-Abkommen schnellstmöglich ratifiziert und in Kraft gesetzt werden. Auch Handel mit den Nachbarregionen der EU verdient stärkere Förderung, unter anderem durch eine modernisierte Zollunion mit der Türkei. Europa und das südliche Mittelmeer haben eine echte Chance, zum größten und fortschrittlichsten integrierten Raum in der Welt der nachhaltigen Textilherstellung zu werden und Investitionen und Aufträge aus Asien und den USA anzuziehen.
Bekommt Brüssel noch die Kurve? Die Entscheidungen, die jetzt in der EU zu treffen sind, sind gravierend. Es geht um nicht weniger als den Erhalt eines wirtschaftlich und politisch starken Europas. Gelingt uns das nicht, stehen auch unsere strategische Autonomie und damit unsere Freiheit auf dem Spiel. Die Lage ist ernst. Weitere fünf Jahre wie die vergangene Legislatur kann sich Europa nicht leisten!◀
Die Ausführungen in dem Artikel entsprechen meiner reinen Privatmeinung und nicht der vom Gesamtverband Textil und Mode. (R.K.)
RA Ralph Kamphöner
Leiter Büro Brüssel
Gesamtverband
Textil und Mode
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rkamphoener@textil-mode.de
www.textil-mode.de
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